Unsere Buchhändlerin Gitte Nölke hat sich dieses Mal mit den Geschichten außergewöhnlicher Frauen beschäftigt. Bewegend, spannend und vor allem mutig, jedoch keineswegs kitschig oder gar oberflächlich - so beschreibt sie die Bücher, die sie Ihnen vorstellen und ans Herz legen möchte.
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Christiane Wünsche: Aber Töchter sind wir für immer
Christiane Wünsche hat hier einen Familienroman geschrieben, der vor allem das Leben der Frauen in den Vordergrund stellt. Eine Geschichte, die zeigt, wie tief Familienbande sind, auch wenn man nicht immer das Verhalten und die Meinung der anderen akzeptieren kann und möchte. Am Ende gehört man dann doch zusammen.
Die Schwestern Johanna, Heike und Britta kommen in das alte Haus an der Bahnlinie, um mit den Eltern den 80sten Geburtstag ihres Vaters Hans zu feiern. Alle verbinden mit diesem Haus so viele Erinnerungen, auch die früh verstorbene Schwester Hermine ist hier immer präsent.
In diesem Haus begann die Geschichte der Familie. Es ist das Elternhaus von Hans. Hier haben Christa und er sich als Teenager kennengelernt und auch wieder aus den Augen verloren. Christa wurde mit ihrer Mutter und dem Großvater nach der Flucht im zweiten Weltkrieg hier bei Hans, seinen Eltern und seinem Bruder einquartiert. Hans´ Mutter machte ihnen das Leben nicht leicht und brachte Christa nach dem Tod des Großvaters und der Einlieferung der Mutter in die Psychiatrie eines Kinderheims. Für Christa war es schwer mit Hans und den Kindern in dieses Haus zu ziehen. Ihre Töchter Johanna, Heike, Hermine und Britta haben sich hier jedoch immer wohlgefühlt. Diese vier sehr unterschiedlichen Mädchen haben hier viel erlebt, auch das mit Hermine, ihrer psychischen Erkrankung und vieles wurde verschwiegen, was jetzt zutage tritt.
Brittas Mann war ein guter Freund von Hermine, er hat von ihr ein Tagebuch geerbt, dass er nun Britta für ihren Vater mitgegeben hat. Als Britta anfängt das Tagebuch zu lesen, nimmt die Geschichte ihren Lauf und nach und nach kommt ein großes Geheimnis ans Licht. Britta hat Hermine nie kennengelernt und hofft über die tote Schwester so mehr zu erfahren, ihr näher zu kommen, da Hermine allgegenwärtig scheint.
Die Geschichte wird immer wieder rückblickend erzählt und so erfährt der Leser nach und nach die Lebensgeschichten der einzelnen Personen. Aus diesen einzelnen Perspektiven ergibt sich für den Leser ganz langsam ein Gesamtbild und viele Situationen werden aus verschiedenen Blickwinkeln erzählt, so dass dem Leser klar wird, warum es in der Familie immer wieder zu Spannungen kommt.
Insgesamt dominieren die Frauen das Geschehen. Sie sind stark und gleichzeitig verletzlich, mutig und gleichzeitig ängstlich und oft hilflos gefangen in ihrer eigenen Geschichte.
Je näher die Geburtstagsfeier rückt, umso weiter bewegt sich Britta ans Ende des Tagebuchs und umso näher kommt all das, was bisher unausgesprochen blieb. Das idyllische Leben auf dem Land scheint geheimnisvoller gewesen zu sein, als man ahnt.
Es ist spannend zu lesen, wie unterschiedlich jeder mit Hermines Geschichte umgeht und wie sehr diese das Leben der Familie auch nach ihrem Tod noch immer beeinflusst hat. Da zeigt sich, wie nahe Liebe und Hass, Freude und Trauer, Verrat und Zusammenhalt beieinander liegen und trotz allem immer wieder ein Neuanfang möglich ist.
Ein wundervoll geschriebener Familienroman, mit sehr unterschiedlichen Frauen, die am Ende alle ihren Weg gefunden haben.
Kathryn Stockett: Gute Geister
„Gute Geister“ ist ein Buch, das ich schon lange auf meiner Leseliste hatte und aber immer wieder verschoben habe. Zurzeit habe ich die Möglichkeit, viele der Bücher auf meiner Leseliste als ungekürzte Hörbücher zu genießen. „Gute Geister“ gehört dazu und wenn es meine Zeit erlaubt, werde ich es vielleicht auch nochmal lesen.
Die Autorin Kathryn Stockett beschreibt in ihrem ersten Roman, das was sie kennt, die Arbeit von afroamerikanischen Hausangestellten in ihrer Heimat Jackson zu Beginn der 1960er. Es war nicht einfach einen Verlag zu finden, der bereit war das Buch heraus zu bringen und doch wurde es schließlich ein großer Erfolg und unter dem Titel „The Help“ entstand eine durchaus gute Verfilmung.
Der Leser findet sich in Mississippi im Jahr 1962 wieder. Die Rassentrennung ist ein fester Bestandteil des Lebens in den Südstaaten, afroamerikanischen Frauen arbeiten als Hausangestellte für die Weißen und ziehen deren Kinder groß, als wären es ihre eigenen. Auch Skeeter die Tochter eines Baumwollfarmbesitzers hatte ein farbiges Kindermädchen, das sie mehr liebte als ihre Mutter. Als sie nach dem Studium nach Hause zurückkehrt muss sie feststellen, dass ihr wichtigster Mensch nicht mehr da ist und ihre Mutter sich weigert ihr zu erzählen, was passiert ist. Im Gegensatz zu ihren Freundinnen ist Skeeters Lebensziel nicht die Heirat eines gut situierten jungen Mannes und das Großziehen ihrer Kinder, sie möchte vielmehr bei einem Verlag arbeiten, für eine Zeitschrift in New York schreiben oder ihre eigenen Geschichten verfassen. Skeeter schreibt für ihr Leben gern, aber leider scheint es schwierig, ihren Traum zu verwirklichen. Die einzige Möglichkeit ihren Traum zu verwirklichen ist, ein außergewöhnliches und nicht ganz ungefährliches Projekt: Sie möchte über das Leben der afroamerikanischen Hausangestellten schreiben, deren Geschichten erzählen und das aus erster Hand. Womit sie nicht gerechnet hat, ist die Angst der Frauen entdeckt zu werden, die Schwierigkeiten, sie für ihr Projekt zu gewinnen. Die Angst ist nicht unbegründet in einer Zeit, in der man als Afroamerikaner totgeschlagen werden kann, nur weil man die „Weißentoilette“ benutzt. Schließlich gelingt es ihr Aibileen, die ihre Geschichten niederschreibt zu gewinnen und auch Minny, die die Macht der Weißen durch Skeeters angebliche „Freundin“ Hillie immer wieder zu spüren bekommt, ist bereit ihre Geschichte zu erzählen. Der Mut der beiden Frauen führt dazu, dass immer mehr der Hausmädchen bereit sind, das Projekt zu unterstützen. Skeeter und die Hausmädchen setzen sich über die Konventionen hinweg und riskieren alles, um ihr Leben zu verändern. In Zeiten, in denen Martin Luther King und viele seiner Anhänger jeden Tag ihr Leben wagen, um gegen die Diskriminierung zu kämpfen, erheben die Frauen ihre Stimmen auf außergewöhnliche Weise.
Kathryn Stockett entführt den Leser in eine Zeit, in der die Afroamerikaner gut genug sind für die Weißen zu putzen, zu kochen, die Kinder groß zu ziehen, in der es ihnen aber nicht gestattet ist, im selben Supermarkt einzukaufen, wie die Weißen, ihre Meinung frei heraus zu äußern oder womöglich mit Weißen befreundet zu sein. Eine der vielen typischen jungen weißen Frauen um Skeeter hat es sich zum Ziel gesetzt, dass afroamerikanische Hausangestellte in jedem Haushalt ihre eigene Toilette haben sollen und verfolgt diese Mission mit einer Vehemenz, die satirische Ausmaße annimmt. Diese Ungerechtigkeiten, dieses Zweiklassensystem sind zwar das Thema des Romans, aber es kommt so leicht daher, dass man anfangs gar nicht merkt, weil die Gesellschaftskritik nicht das Tagende der Geschichte ist. Das Tragende sind die starken und mutigen Frauen, die ungewöhnlichen Freundschaften und die Geschichten der einzelnen Charaktere.
Der Roman erzählt von Aibileen, die sich für ihre Kinder ein anderes, gleichberechtigtes Leben wünscht und dafür ihre weißen Ziehkinder in das Geheimnis der Gleichberechtigung einweiht, indem sie ihnen Geschichten über Freundschaften zwischen weißen und Afroamerikanern erzählt. Sie erzählt von Minny, die beste aller Köchinnen, die sich nicht klein machen lässt, auch wenn es sie fast ihre Existenz kostet und für die man als Leser oftmals zittert und hofft.
Der Leser lernt Skeeter kennen, ihrer Wünsche, Träume und Sehnsüchte und ihre Unerbittlichkeit, wenn es um die Wahrheit geht und darum, den anderen den Spiegel vorzuhalten. Dafür ist sie bereit zum Paria zu werden. Und dann ist da noch Hillie, die Südstaatenlady, intrigant, selbstgefällig, ein Kind ihrer Zeit, der man als Leser manchmal am liebsten den Hals umdrehen möchte.
Auch wenn das Thema ernst und manchmal traurig ist, so kommen doch Komik und Witz nicht zu kurz. Allein Minny sorgt für viel Spaß.
Ein wundervoller Roman, der einen nicht loslässt und mit viel Gefühl geschrieben wurde. Ich kann nur sagen: Wer dieses Buch nicht gelesen hat, der hat eine wundervolle Geschichte und starke Frauen verpasst. Ich habe Tränen gelacht, aber auch aus einer tiefen Traurigkeit und Wut heraus geweint. Ein Thema, das an Aktualität nicht verloren hat, wenn wir uns die Nachrichten der Welt anschauen.
Lebenssekunden von Katharina Fuchs
Die Geschichte zweier junger Mädchen in den 1950ern führt uns ins Nachkriegsdeutschland: Angelika 15 lebt mit ihren Eltern und Brüdern in Kassel. Die Schule ist nicht wirklich ihr Ding, sie möchte Fotografin werden, was natürlich damals ein gewagter Traum ist. Als sie auch noch vom Gymnasium fliegt, scheint der Traum in weite Ferne zu rücken. Nachdem sie von der Schule geflogen ist, findet sie eine Anstellung beim Vater ihrer besten Freundin im Haushaltswarenladen. Dort lernt sie auch ihren ersten Freund kennen. Angelikas Vater ist Künstler und unterstützt die künstlerischen Ambitionen seiner Tochter durchaus, aber das Familienglück gerät ins Wanken, als einer von Angelikas Brüdern bei der Explosion einer Bombe im Schulhof schwer verletzt wird. Angelika ist erstmal auf sich selbst gestellt und versucht eine Lehrstelle als Fotografin zu bekommen. Sie scheitert, lernt aber eine alte Dame kennen und beginnt sich um sie zu kümmern. Diese alte Dame sorgt auch dafür, dass Angelika ihren Traum wahrmachen kann. Sie ahnt hier noch nicht, welche Rolle Angelika schließlich spielen wird, ihre Enkelin aus der DDR wiederzusehen.
Diese Enkelin ist die ebenfalls 15jährige Christine, sie lebt mit ihrer Mutter, ihrem Bruder und ihrem Stiefvater in der DDR und ist seit ihrem 12. Lebensjahr Leistungsturnerin, ein Ausnahmetalent am Stufenbarren. Sie ist bereit für ihren Erfolg und ihr Weiterkommen Schmerzen und Rückschläge in Kauf zu nehmen. Während Angelika durch Kassel streift auf der Suche nach dem besten Foto, ist Christines Alltag durchgetaktet, bestimmt von Schule und hartem Training, überwacht vom Trainer und der Mutter. Jeder Bissen, den sie zu sich nimmt, wird kommentiert und kontrolliert, damit sie ja ihr Gewicht hält. Als klar ist, dass sie für Olympia nominiert ist, wird alles noch strenger. Christines Mutter ist vom Sozialismus überzeugt, aber die Familie muss aufpassen, Christines Vater ist ein Republikflüchtling, sie stehen also unter ganz besonderer Beobachtung.
Es ist unvorstellbar, wie extrem der Drill für den Elite-Kader ist und wie heftig die Eingriffe in die Privatsphäre, die faktisch nicht existent ist, auch absichtliche Körperverletzungen sind an der Tagesordnung.
Christine und Angelika wachsen in völlig unterschiedlichen Welten auf, sie haben aber trotz allem etwas gemeinsam: Sie haben Träume und Ziele, die durch ihre Lebensumstände nicht einfach zu erreichen sind. Beide kämpfen für ihren großen Traum.
Der Roman stellt auch beeindruckend die politischen Probleme der Zeit dar. Man lernt die Situation des Pendelverkehrs zwischen den Zonen kennen, bekommt einen Einblick in die Überwachungstaktiken der Stasi, von der Christines Familie dann selbst betroffen ist, als Christines Flucht scheitert und man spürt die unterschiedlichen Gedanken, die die Menschen in Ost und West umtreiben.
Als Christine sich in einen westlichen Sportler verliebt, nehmen die Probleme Dimensionen an, die nicht lösbar scheinen. Wären da nicht zwei mutige junge Frauen, die bereit sind alles zu riskieren, vor allem als dann auch noch völlig unerwartet und über Nacht mit dem Bau der Mauer begonnen wird.
Denn hier kreuzen sich die beiden Leben und eine Freundschaft eröffnet Möglichkeiten, die eigenen Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen.
Eine wirklich spannende und ergreifende Geschichte, wirklich lesenswert.
Susanne Abel: Stay away from Gretchen
Ein unglaubliches Buch, für mich die Entdeckung des Jahres 2021, ein Roman mit unglaublicher Tiefe, viel Gefühl, der mir noch mehr über eine Zeit offenbart hat, von der ich schon viel zu wissen glaubte.
Mit „Gretchen“ ist der Autorin eine wunderbar starke und mutige Frauengestalt gelungen, die diesen Familienroman trägt. Eine Geschichte, die zeigt, wie weit die Wunden der Vergangenheit auch spätere Generationen begleiten.
Der überaus beliebte und bekannte Nachrichtensprecher Tom Monderath genießt sein Leben als Single und hat keinerlei Motivation, eine Familie zu gründen. Je nachdem mit wem er es zu tun hat, kommt er spritzig und freundlich oder auch grob und abweisend rüber. Seine Mutter Greta ist inzwischen 80 Jahre alt und verfolgt die Nachrichtensendungen ihres Sohnes zu Hause vom Sofa aus. Tom besucht sie immer wieder, merkt wohl, dass sie sich verändert hat, schiebt es auf das Alter und lebt sein Leben.
Als seine Mutter allerdings verwirrt und hilflos mit ihrem Auto weit weg von Zuhause auf der Autobahn aufgegriffen wird und in eine Klinik gebracht wird, muss er sich der Wahrheit stellen: seine Mutter hat Demenz und schon lange stützt sie ihr Gedächtnis mit Klebezetteln. Auch eine gute Freundin und Nachbarin ist immer zur Stelle, wenn sie Hilfe braucht, so dass Tom seine Mutter immer gut aufgehoben wusste.
Ausgerechnet in dieser Situation, bekommt er vom Sender auch noch Jenny, die so gar nicht sein Fall ist, als Aushilfsassistentin zur Seite gestellt. Er findet sie extrem nervig, inkompetent und unattraktiv und das lässt er sie auch deutlich spüren.
Der Job, die Aushilfsassistentin und die demente Mutter, um deren Problem er sich unbedingt kümmern muss, setzen ihn unglaublich unter Stress und dann findet er Unterlagen und Bilder in der Wohnung seiner Mutter, die seine ganze Lebensgeschichte in Frage stellen. Ein großer Teil der Lebensgeschichte seiner Mutter scheint ein großes Geheimnis zu sein. Er stellt fest, dass die Kindheit und Jugend seiner Mutter für ihn völlig im Dunkeln liegt.
Die Demenz von Greta führt dazu, dass die Geschichten der Vergangenheit sich einen Weg aus dem Dunkel bahnen und nach und nach bringt Tom immer mehr in Erfahrung und irgendwann wird klar, warum die Erinnerung an seine Kindheit geprägt ist von der schwierigen Ehe der Eltern und den vielen Aufenthalten seiner Mutter in Sanatorien, warum seine Mutter oft so unnahbar und gefühllos schien.
Greta erzählt plötzlich von einer Tochter, Bilder aus der Nazizeit und der Nachkriegszeit kommen an die Oberfläche und als Journalist überkommt Tom der Drang, die Geschichte seiner Mutter zu ergründen und beginnt er zu recherchieren und mit Jennys Hilfe bringt er die dramatische Geschichte seiner Mutter ans Licht. Die Liebe zu einem afroamerikanischen GI, der auf einmal aus ihrem Leben verschwand und sie mit einem „Mischlingskind“ in einer vom Nationalsozialismus geprägten Welt zurücklässt. Tom findet die Geschichte einer tiefen Liebe zu diesem Mann, den sie lange nicht aufgeben will und zu ihrer Tochter, die als „Brown Baby“, in der Gesellschaft und von ihrer Familie nicht akzeptiert wird. Er erfährt von dem Verlust des Kindes durch die widrigen Umstände, die verlogenen Gesellschaft und durch die Macht der Ämter. Er lernt seine Mutter ganz neu kennen, die im Gefängnis saß, weil sie sich gegen ihr Schicksal aufgelehnt hatte und die fast daran zerbrochen ist und es nicht geschafft hat, dieses von ihr geliebte Kind zu vergessen, das man ihr geraubt hatte.
Tom lernt Jenny von einer ganz anderen Seite kenne, merkt wie kompetent sie in ihrem Beruf ist und wie stark sie als Frau ist, die bereit ist ihr Kind, das sie gerade bekommen hat, auch ohne Mann groß zu ziehen. Sie hilft ihm bei der Recherche und zieht ihn ganz ungewollt in ihr kleines Familienleben mit hinein und ohne, dass er es anfangs merkt, beginnt er Gefühle zu entwickeln, die ihm selbst sehr fremd sind.
Gemeinsam mit Jenny macht Tom sich auf die Suche nach seiner Halbschwester und nach dem Mann, denn seine Mutter heute noch liebt um festzustellen, dass beide um ihre Liebe betrogen wurden, ohne jemals die Chance gehabt zu haben, sich wieder zu finden.
Ein faszinierender, spannender und unglaublich gefühlvoller Roman, der in Rückblenden Gretas Leben erzählt. Der Leser lernt Greta und ihrer Familie kennen, die vom Krieg und dem Nationalsozialismus gebeutelt versuchen, nach ihrer Flucht aus Ostpreußen neu anzufangen. Greta zwischen dem sozialdemokratischen Großvater, den sie sehr liebt und dem Nazivater, der völlig verändert aus dem Krieg heimkehrt und am Ende dafür verantwortlich ist, dass sie ihr Kind ins Heim geben muss. Bis zu diesem Roman wusste ich nichts über das Schicksal der „Brown Babys“ und es erscheint einem so unfassbar, wie damit umgegangen wurde und auch hier spürt man bis nach Deutschland den Rassismus der USA, der auch dort die Liebe zwischen Greta und Bob unmöglich gemacht hätte.
Diese Geschichte hat mich sehr nachhaltig beschäftigt und geht mir bis jetzt nicht aus dem Kopf. Sie gehört zu den Geschichten, die bei mir dazu geführt haben, dass ich zum Thema Brown Babys weiter recherchiert habe und mich sicher mit diesem Thema noch weiter beschäftigen werden.
Die Geschichte einer starken Frau, die ihr Trauma zwar nie überwunden hat, aber trotzdem ihr Leben nicht aufgegeben hat. Wer einen wirklich mitreißenden, vielschichtigen und empathischen Roman mit starken Protagonisten lesen möchte und geschichtlich noch einiges erfahren möchte, der kommt an diesem Buch nicht vorbei. Ein Roman, der den Leser, noch lange nachdem er ihn zur Seite gelegt hat, begleiten wird.
Die Autorin Manuela Golz war mir bis zu diesem Buch völlig unbekannt, ich bin unglaublich glücklich, dass ich mich dennoch entschieden habe, dieses Buch zu lesen: Manuela Golz ließ sich vom Leben ihrer Großmutter inspirieren und erzählt die Geschichte einer starken und außergewöhnlichen Frau, die unerschrocken und mutig ihr Leben gestaltet.
Emmy Seidlitz, geborene Peterson, ist 86 Jahre alt und mit ihrer Gesundheit steht es nicht zum Besten. Sie blickt auf ein ereignisreiches Leben zurück und ist dabei ihre „Dinge“ zu ordnen, denn sie hat nicht vor ewig zu leben, auch wenn ihre Tochter Hilde sich sehr darum bemüht.
Der Roman spielt einige Jahre nach dem Fall der Mauer. In zwei Erzählsträngen lernen wir Emmys Lebensgeschichte kennen – zum einen ihre wirklich beeindruckende Vergangenheit und zum anderen die immer noch aufregende Gegenwart.
Emmy ist auf einer kleinen Insel im Norden geboren. Ihr Vater ist Fischer, die Eltern sind liebevoll und sie hat drei Schwestern, was für die damalige Zeit einer Katastrophe gleichkam – kein männlicher Erbe. Dies führt dazu, dass die Schwestern in alle Welt verteilt werden, als die Eltern früh sterben. Die Mädchen werden sich nie wieder sehen und Emmy landet mit 14 Jahren in Berlin als Hausmädchen, obwohl sie noch so gerne weiter zur Schule gegangen wäre. Sie ist nämlich ein sehr wissbegieriges und kluges Kind. Ihre Klugheit und ihr loses Mundwerk, ihre Direktheit und ihre Sturheit machen das Leben für Emmy immer wieder kompliziert.
Sie lernt einen Sohn aus reichem Haus kennen, verliebt sich und heiratet ihn schließlich, aber auch das ist nicht von Dauer und sie zieht ihre Kinder schließlich alleine groß, nachdem ihre große Liebe im Krieg gefallen ist.
Emmy hat drei Kinder: Hilde, die zu ihrem Leidwesen nach dem Abitur nicht studiert hat, sondern als Hausfrau ihr Glück findet. Otto, der sein Studium der Kunstgeschichte abbricht und als Antiquitätenhändler mehr recht als schlecht durchs Leben kommt und Anni, die sich nach dem Studium als Finanzbuchhalterin selbstständig macht. Der Leser merkt schnell, dass Emmy zu Anni eine ganz besondere Beziehung hat, der Grund hierfür erschließt sich erst nach und nach. Die Familie wird vervollständigt durch Tessa, die Emmy wie eine Tochter liebt. Sie ist die Tochter eines Partners von Anni, der sich umgebracht hat. Anni und Emmy ziehen Tessa gemeinsam groß.
Tessa und Emmy sind sich unglaublich nah und Emmy meint, es liege daran, dass sie beide Sturmvögel sind. So nannte man in Emmys Heimat die Seeleute, die trotz Sturm wieder in den sicheren Hafen zurückkehrten. Für Emmy sind es Menschen, die trotz aller Widrigkeiten ihr Leben meistern und ihren Platz finden.
Die beiden Erzählstränge sorgen für unglaublich viel Spannung und enthüllen immer nur so viel, wie notwendig ist um das momentane Geschehen etwas besser zu verstehen. Vor allem die Rückblicke auf Emmys Leben sind so fesselnd, dass man es nicht erwarten kann mehr zu erfahren. Zu erfahren, welche Gefahren und Probleme Emmy mit ihrem unerschrockenen Wesen gemeistert hat, hat mich oft sprachlos und ehrfürchtig gemacht.
Die Spannung wird noch erhöht, als Hilde und Otto im Keller von Emmy einige Papiere finden, die darauf hinweisen, dass Emmy von ihrem Mann Hauke Seidlitz ein großes Grundstück mit Haus in Potsdam geerbt hat, dass nach der Wende ein Vermögen wert sein muss. Beide denken, die Mutter hätte es vergessen oder wäre zu ungebildet und alt um den Wert zu erkennen. Was sie nicht wissen ist, dass Emmy schon lange einen Plan hat, was sie damit anfangen möchte und der soll mit ihrem Testament die Tat umgesetzt werden.
Denn Emmy ist zwar alt, aber ganz sicher nicht naiv, wie ihre beiden ältesten Kinder denken. Ihr Geist ist wach und sie ist immer noch voller Tatendrang ihr Leben und auch ihren Tod selbst zu gestalten.
An Schlagfertigkeit und Humor ist sie sowieso nicht zu übertreffen. Das merkt der Leser spätestens, als sie auf Drängen von Hilde einen Professor aufsucht, der herausfinden soll, was ihr fehlt.
Emmy lächelte. „Junger Mann, woran soll ich dann sterben, wenn mein Herz nicht einfach stehenbleiben darf? Ich bin fast siebenundachtzig Jahre alt und hatte ein gutes Leben. So wie alle Menschen mit Höhen und Tiefen, aber insgesamt doch ein wirklich gutes. Ich habe das Gefühl, am Ende eines langen Weges wohlbehalten angekommen zu sein. Was will ich denn noch?“ […]
Professor Mattheis unternahm einen letzten Versuch: „Frau Seidlitz, so ein Schrittmacher stört Sie nicht. Sie werden gar nicht merken, dass er da ist. Aber er sorgt dafür, dass Ihr Herz wieder ganz normal schlägt. Es wäre ein Leichtes, Sie zu retten.“ Emmy sah in fragend an. „Retten? Wovor?“
„Vor dem Tod“, sagte Mattheis. Emmy lachte erneut auf. Der Herr Professor war offensichtlich größenwahnsinnig. Ein Verrückter im Gewand eines Arztes. Er wollte sie vor dem Tod retten. Ewiges Leben, das hatte ihr gerade noch gefehlt.
Emmys Leben hat mich so sehr in seinen Bann gezogen und so sehr beeindruckt, dass ich es gar nicht erwarten konnte mehr zu erfahren. Diese Frau hat sich ihr ganzes Leben lang nicht bevormunden lassen und der Leser merkt sehr schnell, dass sie das auch am Ende nicht tun wird. Interessant sind auch die Episoden der deutschen Geschichte, durch die wir hier geführt werden.
Eine berührende Lebensgeschichte, die fast ein Jahrhundert dauert, mit vielen Höhen und Tiefen, der es aber auch nicht an Humor fehlt. Das Schicksal einer starken Frau, das stellvertretend für die vielen Schicksale erzählt wird. Ein MUST-READ für alle, die gute Geschichten lieben.
Katharina Fuchs: Zwei Handvoll Leben
Der Roman „Zwei Handvoll Leben“ basiert auf den Lebensgeschichten der Großmütter von Katharina Fuchs. Als sie das Tagebuch ihrer Großmutter Charlotte fand, begann sie die Geschichten unabhängig voneinander aufzuschreiben. Es sollte einige Jahre dauern, bis sie daraus einen Roman zu verfassen würde.
Die Geschichte umfasst das Leben zweier junger Frauen von 1913 bis zum Jahr 1953, in dem sich Anna und Charlotte das erste Mal bei der Hochzeit ihrer Kinder begegnen. Ihre Herkunft könnte unterschiedlicher gar nicht sein und doch sind sich beide ähnlicher, als sie denken: Beide geboren 1899 in eine Zeit, in der es nicht selbstverständlich war, dass Frauen ihren eigenen Kopf haben. Beider Leben wird geprägt werden durch zwei Weltkriege.
Anna Tannenberg wächst im Spreewald auf, ihre Familie ist eher arm, aber ihre Mutter ermöglicht ihr eine Ausbildung zur Schneiderin, was für die damaligen Verhältnisse nicht einfach war.
Charlotte Feltin dagegen wächst auf einem Gut in Sachsen auf. Für sie ist klar, sie wird dieses Gut einmal übernehmen und als Gutsherrin mit ihrem späteren Mann das Gut weiterführen.
Zwei Frauen, die schon in ihrer Jugend geprägt sind von einem starken Charakter und großem Kampfgeist. Der erste Weltkrieg verändert für die jungen Frauen alles. Annas bester Freund muss an die Front und sie erkennt nicht, wie sehr er sie liebt. Als 19jährige geht sie 1919 schließlich nach Berlin, um sich dort als Schneiderin ein Leben aufzubauen. Mit viel Mut und Unerbittlichkeit kämpft sie gegen Hunger und Armut. Schließlich schafft sie es im KaDewWe, einen Stelle als Verkäuferin zu finden. Als Schneiderin entwirft sie ihre Kleider selber und als sie die Stelle verliert, gründet sie ihr eigenes, kleines Modeunternehmen, mit dem sie viel Erfolg hat.
Charlotte lernt kurz vor Beginn des Krieges auch ihre große Liebe kennen, den jüdischen Rechtsanwalt Leonhard Händel. Dieses Liebe wird einen großen Teil ihres Lebens bestimmen, obwohl sie nicht glücklich verläuft. Charlotte hält während des Kriegs das Gut am Laufen und nach dem Krieg heiratet sie von Leonhard enttäuscht einen anderen.
Beide Frauen heiraten, bekommen Kinder und bauen sich ein Leben auf, als Adolf Hitler an die Macht kommt und wieder ein Krieg aufzieht, der ihrer beiden Leben erneut auf den Kopf stellen wird. Beide Frauen kämpfen wieder um ihr Glück, verteidigen ihre Werte und hoffen auf eine bessere Zukunft. Beide geben ihren Kampf nie auf und trotzen allen Widrigkeiten und Gefahren mit viel Mut, Kreativität und Entschlossenheit. Sie haben beide viel Schmerz erlebt und doch immer einen Weg gefunden, ihr Leben zu gestalten.
Ein Satz, der Katharina Fuchs von einer ihrer Großmütter immer im Gedächtnis geblieben ist und auch sie geprägt hat: „Kopf hoch, wenn der Hals auch dreckig ist“. Dieses Lebensmotto hat beiden Frauen durch viele schlimme Erlebnisse geholfen. Katharina Fuchs erzählt die Geschichte in abwechselnden Episoden, dies macht das Lesen noch interessanter.
Die Geschichte rührt einen manchmal zu Tränen ohne kitschig zu sein, sie lässt den Leser ahnen, was man alles ertragen kann, wenn man muss und dass es sich lohnt, nie aufzugeben. Es zeigt einmal mehr, was die Frauen dieser Generation gelitten und geleistet haben, ohne solche Frauen wäre ein Wideraufbau nicht möglich gewesen. Ein leidenschaftlicher, aufregender und mitreißender Roman, der sich zu lesen lohnt.
... und die Geschichte geht weiter mit „Neuleben“!